Freitag, 11. Juni 2010

Die Deutsche Reitlehre – Segen und Fluch zugleich?

 Quo vadis Deutsche Reitlehre? Ist sie noch unser allseits bewundertes Kulturgut?

Gedanken von Michael Strick, Autor des FN-Bestsellers „Denksport Reiten“

Im Lager der klassisch-orientierten Reitausbilder, Richter und Reiter wird zunehmend die Frage diskutiert: Warum wächst die Zahl derer, die sich frustriert von der Deutschen Reitlehre abwenden, in der Hoffnung, auf eine Ausbildungsmethode zu treffen, die weniger authoritär und mit geringerem persönlichen Einsatz den gleichen Erfolg verspricht? Was bewirkt diese Abkehr von der „klassischen Lehre“? Wieso machen ihr zunehmend alternative „Ausbilder“, nicht selten in Form eines „Gurus“ oder „Pferdeflüsterers“ den Rang streitig?

Die kürzeste, allerdings auch kryptischste Antwort ist: Die Deutsche Reitlehre hat ein massives Verständnisproblem: Da, wo sie tatsächlich als Ausbildungsgrundlage (noch) Geltung hat und auf Lehrgängen den Prüfungsstoff darstellt, erschöpft sie sich gerne in der Pflicht zum Auswendiglernen von Standard-Ausführungen, die dann bei entsprechenden Prüfungen möglichst wortgetreu wiederzugeben sind. Dabei bleiben aber regelmässig all die naturgesetzlichen, physiologischen Fakten unbesprochen und unerklärt, auf der unser immerhin weltweit anerkanntes Ausbildungssystem basiert und an die sich bei richtiger Reitweise das dynamische Kräftesystem„Pferd/Reiter“ anpassen muß. Nur mit Wissen um diesen ebenso profunden wie komplexen Hintergrund der Deutschen Reitlehre läßt sich ihr Wert erklären, dennoch bildet er praktisch eine „Black Box“ in den offiziellen Lehrplänen.

Das ist insofern verwunderlich, als alle relevanten Fakten für die regelrechte Gymnastizierung eines Reit-bzw. Sportpferdes längst von den alten Meistern aus der Kavallerie-Epoche perfekt erkannt, formuliert und für eine ebenso pferdegerechte wie sichere Ausbildung als "conditio sine qua non" festgeschrieben worden ist.
(Interessierte finden sie heute in den Nachdrucken diverser Fachverlage und in der einen oder anderen Nachkriegsveröffentlichung. Allen voran die von Waldemar Seunig und Udo Bürger, beide ebenfalls ehemalige Kavalleristen.) Warum also kommen die elementaren Erkenntnisse zum physiologischen Hintergrund einer natürlichen Reitpferdeausbildung im ansonsten umfassenden Schulungsstoff der FN dennoch zu kurz? Sind die Inhalte der heutigen Reiterei, die ja im Wesentlichen von der Freizeitreiterei getragen wird, nicht mehr zuzumuten?

Womöglich kommt man der Antwort näher, wenn man die Herkunft unserer Reitlehre näher betrachtet: Die preussisch-deutsche Kavalleriegeschichte umfasste etwa 250 Jahre. Die in jener Epoche der großen Reiterschlachten gesammelten Erfahrungen, Exerzier- und Ausbildungsmethoden führten in der Mitte des 19. Jahrhunderts dazu, dass die Kavalleriepferde auf Grund ihrer Rittigkeit einen erheblichen Anteil an den friederizianischen Militärerfolgen hatten. Paradoxerweise fasste das Preussische Militär erst gegen Ende der Kavallerie-Ära den gesammelten Erfahrungsschatz zusammen und komprimierte ihn zur berühmten HDv.12: Eine für alle Schwadronen verbindliche Schulungsanweisung zur stufenweisen gymnastischen Ausbildung ihrer Pferde mit dem Primärziel „Beherrschung der Hinterhand des Pferdes“ durch seinen Reiter. Mit der unübersehbaren Betonung auf „Anweisung“ war die HDv.12 eine Grundausstattung für jeden Kavalleristen. Und der hatte dieses handliche Bändchen mit Sicherheit lieber im Marschgepäck, als Friedrich von Krane’s „Anleitung zur Ausbildung der Kavallerie-Remonten“: ein Wälzer von annähernd 700 Seiten.

Obwohl die Ära schlachtentscheidender Kavallerieeinsätze durch die sich rapide entwickelnde Militärtechnik schon kurz darauf zu Ende ging, war mit der HDv. 12 ein überlegenes Erfolgsmodell für die Ausbildung von Reitpferden in der Welt. Ihre klar gegliederten Ausbildungsstufen basieren auf der Erkenntnis, dass die gymnastische Verbesserung eines Reitpferdes nicht möglich ist, wenn man gegen jene Naturgesetze anarbeitet, auf die man bei der korrekten Gymnastizierung von Pferden unvermeidlich trifft. Also im Wesentlichen die Gleichgewichtsgesetze, die Gesetze der Bewegungsmechanik und die Gesetze der Bewegungsdynamik.

Eine Darstellung in dieser knappen, akademisch-gründlichen, eben typisch deutschen Form, war noch nicht da gewesen.Wie so oft in der Menschheitsgeschichte zeigte sich auch in der Reiterei einmal mehr der Krieg als Vater des Fortschritts. In der Hand ist die HDv.12 leicht. Aber beschäftigt man sich mit ihrem Inhalt, ist
sie ein absolutes Schwergewicht. Der in ihr beschriebene Ausbildungsweg, der zur „Beherrschung der Hinterhand“ führt, ist keinesfalls von einem Anfänger zu bewältigen. Es erfordert im Gegenteil einen fortgeschrittenen, bereits im Gleichgewicht sitzenden Reiter, der es versteht, mit seinem „Kreuz“ auf ein gewisses Mass an Versammlung einzuwirken. Die wenigsten Soldaten, die der Kavallerie zugeteilt wurden, verfügten von Hause aus über solche Fähigkeiten. Sicher gab es Talente, die schneller als andere zu brauchbaren Reitern wurden, aber kurzfristig ging das in keinem Fall.

Es ist überliefert: Als Kavallerist hielt sich selbst in Friedenzeiten das Vergnügen in Grenzen. Wenn das Primärziel überhaupt in den Schwadronen durchsetzbar war, lag das neben der Möglichkeit, richtiges Reiten befehlen zu können, auch an einer fundierten Schulungsbegleitung. Man darf wohl annehmen, dass auf dem mühsamen Weg zum befohlenen Ziel den Kavallerieeinheiten ausreichend Reitlehrer zur Verfügung standen,
die die naturgesetzlichen und physiologischen Hinter-Gründe, auf denen die Reitanweisungen der HDv.12 basierten, kannten und an ihre Reitschüler weitergaben. So, dass diese – im Unterschied zu den meisten Reitern unserer Tage – immerhin wissen konnten was sie taten bzw. tun sollten. Ob das durchgängig zum gewünschten Erfolg führte, steht dahin.

Ausser Frage stehen jedoch zwei Tatsachen, die heute noch für die Deutsche Reitlehre Gültigkeit haben:
1. Ohne entsprechende Lehrer führten die Anweisungen der HDv.12 nicht zum oben genannten Ausbildungsziel.
2. Dennoch wurde die prinzipielle Richtigkeit der Methode durch die überzeugenden Ausbildungsergebnisse der Könner im Sattel stets aufs Neue bestätigt und darum trotz aller schwierigen Begleitumstände im Ausbildungsalltag der Kavallerie nie in Frage gestellt. Dafür sorgten nicht zu Letzt auch Elitereiter der Kavallerieschule Hannover des 19. bzw. des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts; sie arbeiteten ihre Pferde ausnahmslos und selbstverständlich nach den Inhalten der HDv.12. Mit diesem Know-how entwickelte, kultivierte und präsentierte etwa ein Dutzend deutscher Kavallerieoffiziere der damaligen staunenden Reiterwelt jahrelang eine Gymnastizierungsperfektion ihrer Pferde, die nicht ihresgleichen hatte; das preussisch-deutsche Ausbildungssystem, von zivilen wie militärischen Meistern im Sattel vorbildlich umgesetzt, machte es möglich.

Und es machte andere Nationen neugierig.
Bis hierher dürfte all das dem Gros heutiger Reiter bekannt sein. Dennoch macht es Sinn, daran zu erinnern: Unsere heutige Reitlehre (deren Sachwalter bekanntlich die FN mit ihren „Richtlinien“ und der „Ausbildungsskala“ ist) führt das Erbe einer zweckgerichteten Kavallerieausbildung fort. Das Bemerkenswerte daran: Seit Kavalleriepferde ihre Daseinsberechtigung verloren haben, schlossen und schliessen sich zigtausende begeisterte Reitsportler wie selbstverständlich dieser Schule an, ohne sich Gedanken über ihre Herkunft zu machen.

Das ist insofern erstaunlich, als die HDv. 12 keineswegs für Sporterfolge konzipiert worden war (gleichwohl bewährte sie sich dabei spektakulär, wie die Olympiade 1936 zeigen sollte). Auch stand bei ihrer Einführung kaum der Tierschutzgedanke im Vordergrund. Vielmehr machte die preussische Heeresführung mit ihren seitenlangen Reitanweisungen aus der Not eine Tugend: Ungymnastiziert liefen die etwa 40.000 Kavalleriepferde Gefahr zu schnell zu verschleissen. Das war zum einen ein Kostenfaktor, den es einzudämmen galt. Zum anderen ging es um das Leben der Soldaten: Die Erfahrung zurück liegender Jahrzehnte hatte gelehrt, dass ein Reiter auf einem „steifen Bock“ im Ernstfall geringere Überlebenschancen hatte, als ein Reiter auf einem durchgymnastizierten, geschmeidigen Pferd.

Dessen war sich übrigens schon das vielzitierte Urvorbild Xenophon bewußt. Als Reitergeneral galten auch seine Verbesserungsvorschläge in erster Linie der Schlagkraft seiner Kavallerie. Und wahrscheinlich hatte
man auch schon zu seiner Zeit als unumgängliches Ausbildungsziel für den Kavalleristen die sichere Beherrschung der Hinterhand seines Pferdes erkannt. Wo nötig wurde sie im Reitunterricht von Vorgesetzten erzwungen. Wenn ein gut gerittenes Kavalleriepferd im Verlauf seiner gymnastischen Fortbildung dann auch noch an Ausdruck gewann und schöner wurde, war dieser ästhetische Aspekt eine ebenso zwangsläufige wie gänzlich nebensächliche Dreingabe.

Im modernen Reitsport ist es jedoch neben der Bewegungseleganz, den richtig gymnastizierte Pferde zeigen können, genau das, was zahllose Reiterinnen und Reiter an ihren Pferden fasziniert. Und deshalb würden auch die, die mit mehr oder weniger sportlichem Ehrgeiz in den Sattel steigen, auf Nachfrage sofort bestätigen, dass sie selbstverständlich Ihr Pferd richtig reiten wollen. Dass sie sich damit auf ein überaus anspruchvolles, im Grunde akademisches Schulungskonzept einlassen (müssen), ist dabei den wenigsten bewußt. Und – nicht zu vergessen – auf eines, dass ursprünglich ausschließlich für militärische Anforderungen erdacht war, für Schüler, die man als Soldaten entsprechend disziplinieren konnte.

Obgleich auf unseren Pferden nicht mehr der Überlebensgedanke im Vordergrund steht (oder bei den Vielseitigkeitsreitern doch?), bleiben uns die Erkenntnisse und Ausbildungsgrundsätze aus vergangenen Militärzeiten mehr oder weniger unverändert erhalten, denn die Naturgesetze, unter deren Einbeziehung die Ausbildungsanweisungen der HDv.12 entstanden waren, verändern sich nicht; sie sind bleibendes Erbgut der Deutschen Reitlehre! Sie kann – bei Unterweisung (die milde Form der „Anweisung“) durch einen geeigneten Lehrer und nach einer gewissen Schulzeit – unbestreitbar eines für sich in Anspruch nehmen: Kein anderes Ausbildungssystem ermöglicht Reitschülern die Mindestforderung, die in der Reiterei seit jeher aus Gründen
der Risikominimierung das Primärziel war: Die sichere Beherrschung der Hinterhanddes Pferdes.

Dieses Ergebnis ist in seinem reiterlichen Anspruch nicht zu unterschätzen, und man könnte es vielleicht die „Mittlere Reife der Reit-Schule“ nennen. Konkret entspricht das bei Dressurpferden in etwa einem Ausbildungsstand, mit dem eine Reiterin oder ein Reiter eine L-Prüfung mit Anstand bestehen könnte. Auf dieser Stufe könnten diejenigen, die mit weniger ausgeprägtem sportlichen Ehrgeiz ausgestattet sind, guten Gewissens ihr Schulziel als erreicht betrachten. Sie müssten dann im Weiteren nur noch diesen gymnastischen Status beibehalten – was absolut keine Forderung ist, die nur für Turnierreiter Bedeutung hat! Gleichwohl ist einem Pferd mit diesem Ausbildungsstand– seine entsprechende physische und psychische Eignung unterstellt– unter einem ehrgeizigeren Könner der Weg zur „Equiden-Hochschule“ geebnet. Und zwar ohne aufwändige und zeitraubende Korrektur-Altlasten!

Wenn auch das „Zeugnis der Reife“ (das in seinem gymnastischen Anspruch zu guter Letzt einer S-Dressur-Prüfung stand hält) nur wenige schaffen – im Ausbildungssystem der Deutschen Reitlehre ist diese Möglichkeit systemimmanent!

Wie die individuellen sportlichen Ziele einer Reiterin oder eines Reiters unserer Zeit auch aussehen mögen – schliessen sie sich den Inhalten der Deutschen Reitlehre an, kommt das in schulischer Hinsicht etwa den Anforderungen eines humanistischen Gymnasiums gleich. Hier wie da können die Schüler das, was auf sie zu kommt, zunächst kaum erkennen. Die Wahl, nach klassischen Grundsätzen Reiten zu lernen bzw. zu reiten,
nötigt im übertragenen Sinn jeden Reitschüler von Anfang an dazu, auch klassische Lehrinhalte zu akzeptieren – ohne die Gewißheit zu haben, ob er diesem Pensum zukünftig gewachsen ist. Insofern trennt sich kurz über lang auch in der Reit-Schule die Spreu vom Weizen, denn der physiologische Background, der die Ziele der Deutschen Reitlehre überhaupt erst möglich macht, gibt sich früher oder später jedem, der dieses Ausbildungssystem für sich und sein Pferd in bester Absicht wählt, als ziemlich kompliziert zu erkennen. Für die meisten Reitsportler als zu kompliziert.

Auch hier ist es wie im richtigen Leben: Die Institution „Gymnasium“ an sich kreiert nicht das Problem, sondern die Arbeitsweise von Schülern und Lehrern.

Die tägliche Praxis in den Reitbahnen zeigt realistisch: Obwohl nur der weitaus geringere Teil des Reiteraufkommens die Ansprüche des immerhin freiwillig gewählten Schulsystems erfüllt, leben sowohl in den heutigen Reiterwünschen wie auch in den Anforderungen der Pferde-Leistungsprüfungen die Maxime längst vergangener Reiterzeiten fort. Man muß sich das bewußt vor Augen halten: Allein um für einen Freizeitreiter das Potential der Selbstgefährdung im Rahmen zu halten, gibt es tatsächlich keine kleinere Münze, als ein Hochleistungs-Ausbildungssystem, das ursprünglich aus militärischer Not-Wendigkeit geboren wurde.

Diese Tatsache erhellt ein grundsätzliches Dilemma:
Obwohl das System nichts von seiner Gültigkeit verliert, verliert es an Verständnis und in der Folge an Akzeptanz, weil es in seiner Konsequenz zu komplex ist, um es im Do-it-yourself-Verfahren zu erlernen. Und weil es darüber hinaus für seine gründliche Unterweisung und die richtige Anwendung nicht mehr ausreichend ausgebildete Ausbilder gibt. Aber selbst wenn es die gäbe: Die militärisch-präzise Unterrichtsform, die seinerzeit unter anderem zu nie wieder erreichten olympischen Glanzleistungen geführt hatte, würde heute nur noch in seltenen Fällen akzeptiert. Was man manchmal durchaus bedauern mag. Damit soll selbstverständlich nicht der zu Recht geschmähte „Kommisston“ wiederbelebt werden. Aber es ist nun mal Fakt, dass das nicht immer eine Piaffe ist, wenn jemand im Selbsthilfeverfahren mit seinem Pferd auf der Stelle tritt.

Gut gemeint ist auch im Reitsport nicht automatisch schon gut gemacht. Wer einsieht, sein Pferd aus Sicherheitsgründen „wenigstens“ an die Reiterhilfen zu arbeiten und an den Hilfen zu halten, muß sich mit einiger Demut und großer Selbstdisziplin den autoritären Regeln der Naturgesetze unterwerfen, auf die er bei seiner Arbeit unausweichlich trifft. Dabei ist er in den allermeisten Fällen auf die Unterstützung eines ebenso autoritären wie disziplinierenden Fachmanns angewiesen. Einer, der einem gegebenenfalls auch klar macht: Es gibt an den Inhalten der Deutschen Reitlehre nichts zu diskutieren, wohl aber eine Menge zu erklären!

Die Forderung nach einem Pferd, das „an den Hilfen steht“, bedeutet also nicht mehr und nicht weniger, als dass der Reiter die Kontrolle über die Hinterhand seines Pferdes gewonnen hat, bzw. gewinnen muß. In der Gewissheit, dass das der Sicherheit von Pferd und Reiter am ehesten dient, war genau das auch das primäre Ausbildungsziel der Kavallerie. Und es war tatsächlich kein geringes: Schaffte ein Militärreiter diese Mindestanforderung an seinen „Job“ nicht, verringerten sich deutlich seine Überlebenschancen.
Schafft das ein Freizeitreiter nicht, erhöht sich für ihn deutlich das Unfallrisiko, dem Reitsportler
ohnehin ausgesetzt sind. Die Abneigung vieler Dressurreiter vor dem Gelände erklärt sich zumeist aus ihrer zu Recht empfundenen Unsicherheit, ihr Pferd könnte dort in kritischen Momenten womöglich auf eigene Gedanken kommen und ihnen zeigen, wer der eigentliche Chef im Ring ist. Man mag eine solche Situation, in der ein Pferd den Gehorsam verweigert, als Ausnahmefall deklarieren. Tatsächlich aber ist sie symptomatisch
für das weit verbreitete Nicht-Verstehen unserer Reitlehre. Tragisch ist, dass das auch die Ursache für den vorzeitigen Verschleiss zahlloser Pferde ist. Und hier wird deutlich, dass unser klassisches Ausbildungssystem in der Tat Segen und Fluch zugleich ist:

Richtig verstanden vermag die Deutsche Reitlehre Pferde langfristig zu Höchstleistungen zu bringen, falsch verstanden vermag sie Pferde kurzfristig zu ruinieren. Ohne Kenntnis oder Hinterfragen der naturgesetzlichen Hintergründe, auf denen die jeweiligen Stufen der Ausbildungsskala basieren, degeneriert richtiges Reiten zum reinen „Anweisungsreiten ohne Sinn und Verstand“ und zur gefühllosen Lektionenschinderei.

Was zwangsläufig die allseits beklagten „Fehlentwicklungen des Reitsports“ immer weiter voran treibt.
Quo vadis Deutsche Reitlehre? Ist sie noch unser allseits bewundertes Kulturgut?

Oder passen die „alten Inhalte“ einfach nicht mehr in unsere „neue Zeit“? Das wäre so unverständlich wie bedauerlich. Denn die Naturgesetze, auf denen diese Inhalte basieren, sind, wie schon gesagt, zeitlos. Die Schwierigkeiten mit der Deutschen Reitlehre resultieren nicht aus ihrem militärischen Charakter, sondern daraus, dass die Zeit derer abläuft, die ihre Inhalte im Reitunterricht richtig interpretieren können.
Aber selbst für jemanden, der glücklicherweise einen solchen Könner als Ausbilder auf und an seiner Seite hat, stellt sich das zitierte Minimalziel der „Mittleren Reife“ als ein langwieriger, mühsamer, pferdeabhängiger und womöglich kostenintensiver Lernprozess dar.

Bedingungen, auf die sich in unserer auf schnelle Erfolge ausgerichteten Zeit Freizeitreiter wie Profis immer weniger einlassen wollen. Die Deutsche Reitlehre stellt Durchhaltevermögen auf eine harte Probe. Die Gefahr, auf dem Weg zu resignieren oder ihn abkürzen zu wollen, ist nur zu menschlich. Und so kommt es, dass selbst die ambitionierteren unter den Pferdebeisterten nach gewissen Einblicken in die Materie aus nachvollziehbaren Gründen die „reine Lehre“ einfach ignorieren. Und vielen Einsteigern, die nach entsprechenden Erklärungen zu verstehen beginnen, dämmert es, wie mühsam richtiges Reiten ist: Das habe man doch zu Zeiten der Reitbeteiligung so nicht kommen sehen. Und so genau wolle man es als jemand, der eigentlich nur Spaß mit und auf seinem Pferd haben möchte, eigentlich auch gar nicht wissen.

Udo Bürger, Veterinär-Offizier in der Kavallerieschule Hannover, schreibt dazu in seinem Buch „Vollendete Reitkunst“ einen bemerkenswerten Satz:
 „Reiten ist nicht weiter schwierig, solange man nichts davon versteht“.
Und tatsächlich: Die alltägliche Praxis in unseren Reithallen beweist landauf landab, dass es den Reiterinnen und Reitern imGrunde viel weniger um das präzise Absolvieren von Doppelvolten o. ä. gehen dürfte, als viel mehr um die wirklich elementaren und dringend notwendigen Erklärungen zu den drei großen W’s, die unserer Reitlehre provoziert: „Wann?“, „Was?“ und „Warum?“.

Erst mit fundierter Beantwortung dieser Fragen erschließt sich der tiefere Sinn der Ausbildungsskala, bzw. der Inhalt ihrer einzelnen Begriffe. Und erst dann lernt man, ab wann man seinem Pferd zum Beispiel eine korrekte Doppelvolte ohne Gangverlust abverlangen kann! Bleibt die Frage, warum die drei W’s so wenig Gegenstand offizieller Schulungsbemühungen sind.

Sicher, es würde einen erheblichen Mehraufwand im Lehrstoff für Reitlehrer und Turnierrichter geben, denn der Stoff ist keine leichte Kost. Es drängt sich der Verdacht auf, dass sich ein solch aufwendiges Lehrpensum nicht mit der ökonomischen Maxime des heutigen Reitsports verträgt: „Reiten ist leicht und ein Sport für jedermann“.

Die Wahrheit ist: Weder das Eine noch das Andere trifft zu.

Unglücklicherweise begreift man durch Auswendiglernen auch nicht die physiologischen Entwicklungsstufen im Dressuraufbau, die mit den Begriffen der Ausbildungsskala benannt sind (etwas zu kennen bedeutet ja nicht automatisch es auch zu verstehen), sondern ausschließlich dadurch, dass man sie auf einem Pferd nachfühlen lernt, das korrekt danach ausgebildet wurde. Solche Pferde sind – wie die Reitlehrer, die das richtige Wissen und Können vermitteln können – quasi ein Sechser im Lotto. Und die Chancen, dass sich beides je positiv verändern könnte, stehen nicht gut. Seit Jahren kommunizieren Fachjournale, wie die Reiter Revue, in unschöner Regelmäßigkeit, dass Verständnis und Interesse für eine klassische Reitausbildung successive abnehmen. In der Tat, wo man auch hinsieht: in den meisten Reitanlagen sind allenfalls rudimentäre Ansätze bewährter klassischer Grundlagen zu erkennen. Stichhaltige Erklärungen zu den sattsam bekannten Standard-Anweisungen? Fehlanzeige. Wohl aber permanentes Klagen über kaum zu bewältigende Schwierigkeiten. Wenn die letzten „Gralshüter“ klassischer Reitkultur, zum Beispiel vom Kaliber eines Paul Stecken, abgetreten sind, war’s das.

Die Folge davon ist, dass auf breiter Ebene die Stufen der Ausbildungsskala irgendwann endgültig falsch interpretiert werden, mit der düsteren Aussicht, dass selbst richtige Interpretationen kurz über lang auch bei uns im Sand der Reitbahn verschütt gehen. International gesehen sind sie’s offensichtlich schon.

Um nun endlich die Fragestellung des Themas zu beantworten: Die „Erbin“ derHDv.12, die Deutsche Reitlehre, ist mitsamt ihrer Ausbildungsskala zwar theoretisch hinsichtlich der Ausbildungschancen für ein Reitpferd ohne Alternative, aber praktisch gefährdet sie sich selbst, weil sie in ihrem Tiefgang zu wenig gelehrt und in ihren Möglichkeiten zu wenig verstanden wird. Sie leidet unter zuviel „Anweisungen“ bei zu wenig sinnstiftenden Erklärungen, oder anders gesagt: unter zuviel „Form“ bei zu wenig „Inhalt“. Soll sie nicht endgültig an Boden verlieren, kann nur gründliches Umdenken hinsichtlich zukünftiger Ausbildungsdidaktik Abhilfe schaffen. Dann ziehen vielleicht auch Ausbilder und Richter wieder mehr an einem Strang. Und zwar in einer Weise, dass Reitlehrern, die sich die Unverzichtbarkeit einer korrekten Grundausbildung auf die Fahnen geschrieben haben, zukünftig nicht mehr von Seiten so vieler Richter in den Rücken gefallen wird.

Es wäre die reine Freude, immer öfter zu sehen, dass zum Beispiel, ein Pferd, das mit aktiver Hinterhand und locker schwingendem Rücken, aber relativ flacher Halsstellung geht, selbst dann besser bewertet wird, wenn es kleine Patzer in der Ausführung der einen oder anderen Lektion macht, als ein Pferd, das seine Lektion optisch zwar fehlerfrei aber mit einem von der Reiterhand hochgezogenen Hals, festem Rücken, schleppender Hinterhand aber bestechender Schulterfreiheit absolviert.

Oder dass ein Pferd, das sich in einer M-Dressur gänzlich schwunglos präsentiert, das Viereck nicht mehr mit einer Wertnote über „6“ verlassen kann. Mit einer sachlichkritischen Überprüfung der Grundlagen und einer entsprechenden Benotung ließe sich sowohl für die Reiter wie auch für die Reputation der Deutschen Reitlehre einiges in die richtige Richtung bringen.

A propos „Ausbilder“, dem stärksten und zugleich schwächsten Glied in der Kette:
Dem, der um die Sachlage weiß, drängen sich unweigerlich Gewissensfragen auf: Wie sagt man denen, die mit und auf ihren Pferden das Grundschulpensum zur eigenen Sicherheit nicht schaffen, deren Reitweise ungewollt eher ein Fall für den Tierschutz ist, dass das so ist? Welchen Weg empfiehlt man ihnen mit ihren Pferden? Mehr noch: Wie verhilft man ihnen zu einem für sie passenden Pferd? Und last but not least: Wie kann man verhindern,– will man dem Thema „Reiten“ nicht ganz entsagen – dass unter den geschilderten Um-ständen Reitsportbegeisterte mitsamt ihren Pferden nicht immer noch weiter selbst ernannten


„Heilsbringern der Alternativ-Reiterei“ in die weit offenen Arme laufen?
Es ist zu befürchten, dass wohl selbst in der Freizeitreiterei irgendwie der Faktor „Geld“ Einfluß auf alle Antworten nimmt.

Zum Schluß die gute Nachricht: Immerhin vermag trotz einer möglichen Irritation zum geschilderten „Problemfall Deutsche Reitlehre“ zumindest eine positive Gewissheit der drohenden Resignation entgegen zu wirken: Reiter, denen man begreiflich machen konnte, was auf Grund ihrer Einwirkung jeweils physisch und psychisch mit und in ihrem Pferd passiert, werden wenig später tatsächlich entscheidend besser reiten.Voraussetzung ist allerdings, dass man als Lehrer auf einen wachen Geist und einen uneitlen Charakter trifft. Fehlt eins von beiden, wird richtiges Reitenlernen schwierig. Fehlt beides, wird es unmöglich.


Anmerkung von mir:
Eingestelllt u.a auf Grund einer Diskussion bei Fair zum Pferd.

9 Kommentare:

  1. Sehr schöner Artikel. Man könnte es aber auch kürzer fassen: Es liegt einfach daran, daß eine zunehmende Anzahl von Menschen nicht mehr willens ist, schlicht un einfach mal NACHZUDENKEN, bevor sie etwas tun.

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  2. ;-) Oder so.
    Aber im Ernst, es ist nicht einfach, wenn man eigentlich "nur" ein Hobby ausüben möchte.
    Das aber möglichst Gut....
    Zwischen Kruppe und Widerrist sitzen reicht eben vielen nicht. Das investieren was nötig wäre, will oder kann man aus den unterschiedlichsten Gründen nicht.Guter Unterricht ist selten und dann auch oftmals teuer.
    Alles nicht so einfach.

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  3. Moin

    > Zwischen Kruppe und Widerrist sitzen reicht eben vielen nicht.

    Und doch kommt selten mehr dabei raus.
    Ich krieg nun mal keinen Maybach, wenn ich nur Kohle für einen Golf ausgeben will.

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  4. Maybach Sigi? Hhhmmm, mir fallen eher die Leute auf, die sich nen Porsche kaufen und dann vor der Motorisierung nen Bammel bekommen. Anders kann ich mir nicht erklären, warum man im Maul so viel bremsen muss ;-)

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  5. Generell ist nichts gegen den Text zu sagen, es sei denn, man zöge die Aufmerksamkeitsspanne der Leser in Betracht. Dann, so befürchte ich, wird der text nicht von allzuvielen Menschen wirklich durchgelesen. ;)

    Kurz zu diesem hier:
    "Unsere heutige Reitlehre (deren Sachwalter bekanntlich die FN mit ihren „Richtlinien“ und der „Ausbildungsskala“ ist) führt das Erbe einer zweckgerichteten Kavallerieausbildung fort."

    Füllt die FN diese Rolle wirklich aus? Sie schreibt es sich sicherlich auf die Fahnen, aber ich bin doch äußerst skeptisch.

    Beste Grüße
    Marc

    p.s.: Könntest Du vielleicht blockquote o.ä. (Text fett würde ja reichen) aktivieren, dann sähen die Zitate besser aus. ;)

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  6. Hi Marc,
    Danke für deinen Post. Ich werde, so bald ich etwas Zeit habe, mal gucken wie das geht.
    Ich bin nämlich leider ein DAU was diese Dinge betrifft.
    Was die Aufmerksamkeit betrifft, hast du sicher nicht unrecht. Aber für eine Zeitschrift oö. wäre er eindeutig zu lang. Ansonsten ist eben auch die Frage, ob den Inhalt jeder hören bzw. lesen möchte ;-)
    Bezüglich der FN ist es wie mit vielen Dingen. Erfüllen die einzelnen Menschen die Maßgaben der Institution?!
    Bei dem einen oder anderen bin ich mir ebenfalls nicht ganz sicher, ob er da nicht das eigentliche Ziel aus den Augen verloren hat.

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  7. "Ansonsten ist eben auch die Frage, ob den Inhalt jeder hören bzw. lesen möchte ;-)" Nein, bestimmt nicht. Da kämen ja unter Umständen Denkprozesse in Bewegung, man müsste sich gar mit sich selbst auseinandersetzen, schlimmer noch, vielleicht sogar das eigene Handeln in Frage stellen. Das geht ja mal gleich gar nicht. :)

    "Bezüglich der FN ist es wie mit vielen Dingen. Erfüllen die einzelnen Menschen die Maßgaben der Institution?!"
    Du drehst den Spieß um, ok. Ist ja eigentlich auch richtig. Ausgehend von den Idealvorstellungen: Zu einem erheblichen Teil sicherlich nicht. Schade eigentlich.

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  8. liebe Tina, mit grossem Intresse habe ich den Text deines Vaters gelesen .In seinem in der FN veroeffentlichen Lebenslauf konnte ich nichts ueber seine Reitleher erfahren. Welche langjaehrigen Reitlehrer haben deinen Vater gepraegt bzw auf den richtigen Weg gebracht? Ueber eine Antwort wuerde ich mich sehr freuen, LG Elli

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  9. Elli, wenn du magst dann schicke mir doch eine Mail, dann stelle ich sehr gerne den Kontakt zu meinem Vater her. Ich bin mir sicher er kann dir deine Fragen ausschweifender beantworten ;-)

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